Episode 12

Eine Bücherdiebin

  • Hamster 12 zum Hören

Dutzende junge Geckos schlüpften aus den Eiern. Sie wurden augenblicklich von gierigen Vögeln aufgesammelt, die sie an ihre eigenen Jungen verfütterten. Wieso hat nun ausgerechnet Yangtse Kiang überlebt? Yangtse erzählte von seinem Schicksal.

«Als die Vögel über uns herfielen, herrschte grosse Panik. Alle schrien und kreischten und rannten wild hin und her und übereinander und ineinander. Und wir wurden immer weniger. Da wurde mir klar: Ich hatte nur eine Chance, wenn ich hart verhandeln würde.

Als mich ein Vogel packte, rief ich laut: ‘Achtung, ich bin giftig! Gelbe Geckos sind giftig!’ Aber der Vogel hörte nicht auf mich und trug mich in die Luft.

‘Wer mich frisst, kriegt Bauchschmerzen!’, rief ich noch lauter. Aber der Vogel flog weiter.

‘Ich bin ansteckend’, rief ich. ‘Ich habe eine schreckliche Krankheit. Sie heisst Gelbsucht. Und ich habe auch Geckoliphitis und einen Geckenbiss. Das ist alles sehr ansteckend. Hör doch mal zu! Ich muss dich warnen. Wer mich frisst, wird sofort schwer krank. Ihm fallen die Federn aus und allen anderen in der Nähe fallen ebenfalls die Federn aus. Schau doch, du hast gerade eine Feder verloren. Die Krankheiten wirken bereits.’

Der Vogel blickte zurück und dachte, er sehe tatsächlich eine Feder zu Boden gleiten. Augenblicklich liess er mich los und ich fiel direkt in die Handtasche einer älteren Dame.»

Yangtse lehnte sich stolz zurück. Fidschi, Nico und Rona waren beeindruckt. Was für ein schlauer Gecko!

Aber die Vogelspinne zischte: «Sssschöne Gesssschichte, Gelbkopf. Glaubt ihr wirklich, ein klitssse kleinessss Gecko-Baby könne überhaupt sssschon reden? Und dann sssolches Zeugsss? Unsssssinn, sssage ich, Unssinn!»

Die Heldengeschichte von Yangtse Kiang war tatsächlich frei erfunden. In Tat und Wahrheit hatten ihn die Vögel nur darum nicht aufgepickt, weil er so schmächtig und flach gewesen war. Sie dachten, er sei bloss ein Stück Stroh.

Yangtse hatte dabei aber eine wichtige Lektion fürs Leben gelernt. Er huschte ins nächste Gebäude und wollte nie mehr unter freiem Himmel sein. Per Zufall war dieses Gebäude eine grosse Bibliothek. Yangtse kroch zwischen den Büchern hin und her und genoss es, die Bilder anzuschauen. Wenn er Hunger hatte, leckte er alles ab, was auf den Bildern gelb war. Mit der Zeit brachte er sich das Lesen bei. Alle Worte, die etwas mit gelb zu tun hatten, leckte er ebenfalls ab: Banane, Sonnenschein, Zitrone, Osterglocken, Honig, Postauto, Winnie der Puh und so weiter. Er fand heraus: Gelb ist die spannendste Farbe von allen. Das Wort «gelb» tönt zum Beispiel in allen Sprachen anders: yellow, jaune, giallo, amarillo, gääl, verdhë. Blau ist zum Beispiel viel langweiliger: blue, bleu, blu, azul, blu.

Yangtse war begeistert von allem, was er in den Büchern entdeckte. Und er wurde immer kluger. Er interessierte sich vor allem für Sachbücher, für solche voller Tatsachen und Fakten. Fantasiegeschichten liess er aus.

Eines Tages wurde das Buch, in dem er gerade schlief, von einer älteren Dame in die Handtasche gesteckt und aus der Bibliothek gestohlen. Unmengen gestohlener Bücher stapelten sich bei ihr zuhause. Es war ein richtiges Paradies für einen Büchergecko. Aber dann wurde die alte Dame bei einem Bücher-Diebstahl in einem Warenhaus verhaftet und die Polizei räumte alle Bücher aus ihrem Haus.

Was nicht dem rechtmässigen Besitzer zurückgegeben werden konnte, wurde auf einem Flohmarkt verkauft. Nico und Rona kauften dort einige tolle Bücher, vor allem solche mit vielen Bildern vom Weltall oder von wilden Tieren und Vögeln. Beim Lesen wunderten sie sich, warum in den meisten Bildern die gelbe Farbe fehlte und immer wieder ganze Worte wie wegradiert waren. Erst jetzt wussten sie, weshalb: Yangste hatte sie gefressen.

Rona war schon mal aufgefallen, dass im Vogelbestimmungsbuch, das sie am Flohmarkt gekauft hatte, die Bilder der Tauben fehlten. Jetzt war ihr klar, warum: Yangtse hatte herausgefunden, dass es Tauben waren, die damals seine Geschwister aufgepickt hatten. Deshalb hasste er Tauben über alles. Sie mussten aus allen Büchern verschwinden. Und deshalb hatte er auf dem Balkon einen solchen Schrecken gekriegt, als er erstmals wieder echten Tauben begegnet war.

Dann kamen Mäm und Paps ins Zimmer, um den Kindern eine Gutenachtgeschichte zu erzählen. Sie brauchten aber keine mehr. Sie hatten schon genug Geschichten für einen Tag gehört und wollten lieber spielen.

«Wo ist mein Helikopter?», rief Nico.

Er suchte das ganze Zimmer ab, fand ihn aber nicht und wurde sauer. Er gab Rona die Schuld.

«Waf foll ich mit deinem dämlichen Helikopter?», rief Rona.

«Helikopter sind nicht dämlich. Du bist dämlich», gab Nico zurück.

Dann keiften die beiden so laut, dass die Eltern ins Zimmer kamen.

«Ab ins Bett mit euch», befahl Paps.

«Aber wo ist mein Helikopter?», rief Nico.

«Du brauchst keinen Helikopter zum Schlafen», sagte Mäm.

«Aber ich kann nicht schlafen, wenn ich nicht weiss, wo er ist», sagte Nico.

«Und wir können nicht schlafen wegen diesem Scheissvirus», sagte Paps.

«Sven, wie redest du denn?», sagte Mäm empört.

«Ist doch wahr», sagte Paps. «Echt, die Welt hat ein voll beschissenes Riesenproblem. Und hier regt sich einer auf, weil er seinen Spielzeug-Helikopter nicht findet.»

Er stürmte aus dem Zimmer.

«Ihr müsst ihn verstehen», sagte Mäm. «Bei Paps am Flughafen ist der Teufel los, weil plötzlich niemand mehr reisen darf und auch alle Geschäfte geschlossen wurden.»

«Dann hat Papf jetft immer frei?», fragte Rona.

«Eben genau nicht. Er muss morgen unbedingt zur Arbeit und das wird ziemlich hektisch und unangenehm werden», sagte Mäm. «Aber ich bleibe zuhause. Morgen und übermorgen und wahrscheinlich für lange. Denn ab morgen fahren nur noch wenige Züge. Alle Leute müssen zuhause bleiben. Die nächste Zeit wird für uns alle schwierig. Aber wir schaffen das schon.»

Sie sangen ein paar Lieder und dann wurde es ruhig im Kinderzimmer.

In der Aufregung hatte niemand bemerkt, dass sich Fidschi wieder auf dem Balkon versteckt hatte.

 

Beschäftigungsideen

Nehmt eure Lieblingsbücher und schaut, ob dort auch die gelbe Farbe fehlt oder ganze Wörter wie ausradiert sind. Das wird wahrscheinlich nicht der Fall sein, aber ihr könntet trotzdem Gelbe Geckos spielen, die ganz lange in Büchern stöbern und lesen und das richtig geniessen. Und ihr könnt ja mal alles Gelbe suchen. Viel Spass!

 

 

 

 

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